Mutter, der Mann mit dem Koks ist da

Cocablätter waren den Europäern zwar seit den ersten Reiseberichten über die Neue Welt bekannt, wurden aber in Europa nie als Rauschdroge verwendet. Das wirksame Cocain wurde 1860 durch Albert Niemann erstmals isoliert und seit 1862 von der Firma E. Merck produziert. 1884 wurde seine lokalanästhetische Wirkung erkannt, ab 1885 wird vor Cocain gewarnt.

Damals waren außer reinem Cocain auch flüssige Coca-Extrakte (Fluid extract of Coca) und Coca-Präparate wie Coca-Wein, Coca-Zigaretten und der wohlschmeckende „Coca-Cordial“ der amerikanischen Firma Parke, Davis & Co. im Handel. Kurz darauf erfasste die erste Cocainwelle die schwarzen Arbeiter der Südstaaten, die durch das billige, bis 1906 freiverkäufliche Cocain ihre katastrophalen Lebensbedingungen erträglicher gestalten wollten. Die Entstehung des Blues ist daher in Zusammenhang mit der Einnahme von Cocain zu sehen [5].

Besonderes kommerzielles Geschick bei der Propagierung von Coca-Präparaten hatte der Chemiker Angelo Mariani. Er ließ sich 1863 einen cocainhaltigen Wein (Vin Mariani) in den USA patentieren, der vor allem in Frankreich sehr populär wurde. Zu seinen Kunden gehörten die Schriftsteller Jules Verne, Emile Zola und Hendrik Ibsen und die Komponisten Charles Gounod (1818 – 1893) und vor allem Jules Massenet (1842 – 1912). 1886 kam aufgrund einer Rezeptur des Apothekers J. S. Pemberton die Coca-Cola als (bis 1906 cocainhaltiges) Stimulans und Kopfschmerzmittel auf den Markt. 1914 wurde in den USA der Zusatz von Cocain zu Getränken und rezeptfreien Arzneimitteln gesetzlich verboten (Harrison Narcotic Act).

In Europa wurde eine Cocainwelle durch den oft unkritischen Einsatz des Cocains in der Medizin – auch Sigmund Freud ist in diesem Zusammenhang zu nennen – ausgelöst und während des 1. Weltkrieges (Behandlung der Kriegsverletzten) verstärkt. Diese Cocainwelle erreichte ihren Höhepunkt in den „verrückten 20er-Jahren“. Durch Einführen der billigeren und länger wirksamen Amphetamine ging der Cocainkonsum in den 30er-Jahren zunächst zurück, nahm aber in den 70er-Jahren wieder deutlich zu, ab Mitte der 80er-Jahre häufig in Form von Crack, das durch Aufkochen von Cocainbase mit Backpulver und Wasser gebildet wird.

Crack wird geraucht, aber auch gegessen und gespritzt, wobei eine Wirkungsverstärkung eintritt. Heute ist der Cocaingebrauch vor allem in Stressberufen verbreitet, zu denen die moderne Musikszene gehört. In der Drogenszene verbreitete Synonyma für Cocain sind Koks, Coke, Dust, Flake, Schnee, Snow.

Die Fülle der Cocainlieder ist kaum mehr zu überblicken. Wolf-Reinhard Kemper hat in seiner Dissertation [4] zum Thema „Kokain in der Musik“ 204 englischsprachige und 37 deutschsprachige Cocainlieder aufgelistet. Bereits vor dem 1. Weltkrieg war in New Orleans ein Song „Candy Man“ beliebt. Als Candy Man wurde in den Südstaaten ein Cocaindealer bezeichnet. Der erste Cocainsong, der auf einer Schallplatte erschien, war „Dope Head Blues“, gesungen von der farbigen Sängerin Victoria Spivey [5]. Der erste Vers lautet Just give me one more sniffle, another sniffle of that dope.

In „Porgy and Bess“ von George Gershwin (1898 – 1937) taucht Cocain erstmals in einer Oper auf (1935 uraufgeführt). Die Handlung spielt in den Südstaaten und basiert auf einem Roman von DuBose Heyward. Der Dealer Sportin Life versucht Bess mit Cocain (im Text als Happy Dust bezeichnet) gefügig zu machen. Auch an anderen Stellen der Oper kommt Cocain vor.

Eine weitere Oper, in der Cocain auftaucht, ist „Boulevard Solitude“ von Hans Werner Henze nach einem Libretto von Grete Weil (1952 in Hannover uraufgeführt [34]). Eine enorme Verbreitung hat der Cocaine Blues erfahren. Kemper [5] unterscheidet drei unterschiedliche Songs mit diesem Titel und erfasst in seiner Discographie insgesamt 30 Versionen. Der erste „Cocaine Blues“ wurde 1927 von Luke Jordan geschrieben, der letzte in der Auflistung stammt von Hannes Wader und Konstantin Wecker aus dem Jahre 2000. Beide haben davor auch schon andere Songs über Cocain vorgetragen. Im Text des 1972 veröffentlichten Songs „Kokain“ nach der Musik des „Cocaine Blues (No. 3)“ schrieb Wader (geb. 1942) im Refrain:

Oh Mama, komm schnell her, / halt mich fest, ich kann nicht mehr / Cocaine, all around my brain und als letzte Strophe: Ich merke schon, dass ich jetzt aufhör’n muß, / oh Mama, Mama, Mama komm mach mir ’nen Schuß / mit Morphium und Heroin, / Opium und Rosimon oder gib mir / Lysergsäurediäthylamid, / Meskalin und Nepalshit, la, la, la … (Text aus [5]).

Konstantin Wecker (geb. 1947) singt in seiner 1993 erschienenen Ballade „Kokain“ im ersten Vers: Meine Seele löst sich, fliegt dahin. Kokain, Kokain und im letzten Vers: Hol mich raus, ich kann nicht mehr, alles Leichte wird so schwer, und was gilt, das geht dahin. Kokain. Wecker hat seine Cocain-Abhängigkeit, über die er im 1992 erschienenen Buch „Uferlos“ berichtete, überwunden.

Die als Folge des 1. Weltkrieges und der Inflation einsetzende Weltuntergangsstimmung zu Beginn der Weimarer Republik war ein idealer Nährboden für die Entwicklung einer städtischen Rauschgiftszene. Das Nachtleben im Berlin der 20er-Jahre ist charakterisiert durch Rauschgift, Prostitution und Nackttänze in den unzähligen Revuetheatern [6, 7]. Zahlreiche Künstler verfielen damals dem Cocain oder Opiaten. Erwähnt werden sollen hier nur die Dichter Gottfried Benn, Walther Rheiner, A. Rudolf Leinert und der Schriftsteller Carl Zuckmayer.

Von Skandalen umgeben war die Tänzerin Anita Berber (1899 – 1928), die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase auf die Bühne brachte mit Themen wie „Selbstmord“, „Morphium“ oder „Haus der Irren“ [6]. Der 1923 von Anita Berber mit ihrem Partner Sebastian Droste aufgeführte Tanz „Kokain“ nach einer Musik von Camille Saint-SaĎns (Dance macabre, op. 40, 1874) wurde von dem Tanzhistoriker Joe Jencik wie folgt beschrieben (aus [6]):

Imaginäre Schreiversuche zerfließen um den Mund herum, in Verwunderung über plötzliche Gesichte, die vage sind: diese zerfließen wieder vor dem Aufschrei, und so verfolgt die Tänzerin sich und die Schöpfungen ihrer kranken Phantasie. Der gesunde Körper kämpft mit dem vergifteten, und dieser wütet wieder mit dem gesunden. Der Herzmuskel muß doch endlich erlahmen, und das Untier der Kokainseuche erdrückt sein freiwilliges Opfer. Der Körper der Tänzerin wirft sich in einer ungeheuren Kaskade. Weitere Agonie – diesmal erinnernd an den süßen Schlaf einer aus der Hölle der Qualen Befreiten.

Bereits Saint-Saens hatte der Musik ein Gedicht hinzugefügt. Anita Berber ergänzte es durch eigene Verse, in denen es u. a. heißt: … Nervöses zerflatterndes Begehren / Aufflackerndes Leben / Schwälende Lampe / Tanzender Schatten / Kleiner Schatten / Großer Schatten / Der Schatten / Oh – der Sprung über den Schatten / Er quält dieser Schatten / Er martert dieser Schatten / Er frisst mich dieser Schatten / Was will dieser Schatten / Kokain (aus [7, 31]). „Die Tänze des Lasters, des Grauens und der Ekstase“ tauchen auch als Buchtitel auf [33].

Klaus Mann, der in dieser Zeit in Berlin war und die Berber gut kannte, schreibt in „Erinnerung an Anita Berber“ [8]: Man schrieb 1924, Anita Berber war schon eine Legende. … Nachkriegserotik, Kokain, letzte Perversität: solche Begriffe bildeten den Strahlenglanz ihrer Glorie. Nebenbei wußten die Kenner, daß sie eine ausgezeichnete Tänzerin war. … Sie sprach ununterbrochen, und sie log furchtbar. Es war klar, daß sie sehr viel Kokain genommen hatte; sie bot auch mir welches an. … Mit fünfundzwanzig Jahren auf grell beleuchteter Höhe, vom Skandal wie von einem Glorienschein umgeben; mit neunundzwanzig vom Teufel geholt, als sie starb. Sie machte es schnell ab.

Mir scheint dieses Leben zu großen Stils, als daß man es mitleidig anschauen dürfte. Freilich, sie endete jammervoll, und uns alle, die wir sie gekannt haben, trifft der Vorwurf, daß sie allein, daß sie ohne Hilfe starb. Doch hat ihr grausiges Ende eine innere Logik, vor der Mitleid geringfügig wird. Sie war eine große und extreme Natur, sie mußte so extrem enden, wie sie es getrieben hatte. So ruchlos-ästhetizistisch es klingt, ein behaglicherer Schlußakt hätte ihre Lebenslegende verdorben.

Klaus Mann verweist auch auf den Roman „Der Tanz ins Dunkel“ von Leo Lania (Adalbert Schultz-Verlag), der das Leben der Anita Berber beleuchtet. Wahrscheinlich nimmt auch das Lied „Hannelore“ von Claire Waldoff (1884 – 1957) Bezug auf Anita Berber (aus [6]):

Sie tropft in die Augen Atropin und schnupft ’ne Handvoll Kokain, besonders so im Mai sie macht in Weltverjessenheit und ab und zu in Sinnlichkeit – auch das geht schnell vorbei …

Die damals sehr populäre Schauspielerin Grete Weiser (1903 – 1970) sang den Schlager „Mutter, der Mann mit dem Koks ist da“:

Mutter, der Mann mit dem Koks ist da! Stille doch, Junge, ick weeß es ja! Haste denn Jeld? Ick hab‘ keen Jeld. Wer hat denn den Mann mit dem Koks bestellt?

Dieser Berliner Gassenhauer nach dem Walzerlied zur Operette „Gasparone“ von Karl Millöcker entstand 1886. Gemeint war zu dieser Zeit noch der Brennstoff Koks; erst in den 20er-Jahren gewann die Bezeichnung ‚Koks‘ eine andere Bedeutung.

Der ‚Technoheuler‘ Falco (1957 – 1998) nahm den Titel „Mutter, der Mann mit dem Koks ist da“ 1996 in sein Programm auf – mit eindeutigem Bezug auf Cocain. Aus den in den 20er-Jahren beliebten Nonsens-Liedern soll als Beispiel ein Text erwähnt werden, der Cocain erwähnt und von Hans Wassermann, einem der Schlagerstars der damaligen Zeit, gesungen wurde (aus [6]):

Eins zwei dreia – Quatsch mit Eia. Eichenlaub und Mamelucke – vivat Koks! Futsch ist die Spucke! Lehmann Lady Lude Louis. Oben hui und unten pfui. Schnurrdiburri töff-töff-töff, Malzkaffee mit Blöff-blöff-blöff. Veni-vidi-vimm – da haste den Klimbim!

Der Text klingt an die damals aktuelle Dada-Bewegung an. Ein Insider des Berliner Nachtlebens, der Schlagerkomponist Friedrich Hollaender (1896 – 1976) [9], kannte sich auch in der Drogenszene aus: Die Tarife richteten sich – schließlich ham wa jetzt ’ne Demokratie – nach der sozialen Stufe der Süchtigen. Ein Päckchen Kokain war billiger in der Toilette des Bahnhofs Zoo als im Toilettenraum des Hotels Eden. Vollends sank der Preis im Café Hoppla, Ecke Friedrichstraße. Aber da war nur geriebene Kreide drin. Die Drogenwelle endete abrupt mit dem Ende der Weimarer Republik und der Machtergreifung der Nazis.